Ali tritt das Gaspedal durch und starrt angestrengt in das Dunkel. Es ist drei Uhr morgens in Niger, am südlichen Rand der Sahara. Er fährt knapp 100 Stundenkilometer. Die Scheinwerfer hat er ausgeschaltet, damit er nicht gesehen wird. Bei Sternenlicht lenkt er den schwarzen Toyota Hilux durch enge Schluchten. Auf der offenen Ladefläche des Pick-up klammern sich 25 Frauen und Männer aus Nigeria aneinander. Ali hat die gefährliche Fahrt nach Libyen schon mehr als 100 Mal unternommen – aber noch nie auf dieser Strecke.
Vor ein paar Monaten hat Nigers Regierung mit der Europäischen Union (EU) vereinbart, eine der weltweit am stärksten genutzten Migrationsrouten durch die Sahara zu schließen. Seitdem fängt die Armee Konvoys von Migranten ab. Die Soldaten verhaften die Fahrer und beschlagnahmen die Fahrzeuge. Manchmal, berichten Ali und andere Fahrer, eröffnen sie das Feuer auf Fahrzeuge, die zu entkommen versuchen. Sie zielen auf die Reifen, treffen aber auch Menschen. Deshalb meiden die Fahrer inzwischen die Hauptstrecke durch die Wüste, eine knapp 1000 Kilometer lange, gut ausgebaute Nationalstraße zur libyschen Grenze, und suchen sich ihre eigenen Wege.
Ali hatte immer Angst vor Banditen. Jetzt fürchtet er die Soldaten, die Fahrer wie ihn mit derselben Dringlichkeit jagen wie islamistische al-Qaida-Kämpfer. Er spürt, wie das Fahrzeug die Bodenhaftung verliert und sich seitwärts neigt. Für einen Moment schwebt er in der Luft. Dann kracht der Pick-up zu Boden und bleibt in einer Bodensenke, die er im Dunkeln übersehen hat, auf der Seite liegen. Er hört das Stöhnen, als er sich aus dem Autowrack befreit. Dann sieht er die Menschen, die aus dem Pick-up gefallen sind. Zwei von ihnen hat ein Kanister mit knapp 200 Liter Sprit unter sich begraben. Ali ruft mit seinem Thuraya-Satellitentelefon einen Freund in Agadez an. Er gibt seine Koordinaten für die Suchexpedition durch und zieht eine Kelle aus dem Pick-up. Unter den Blicken der verletzten Migranten begräbt er die beiden toten Nigerianer in einem flachen Grab im Sand.
Bis vor etwas mehr als einem Jahr war Agadez im Norden des Niger Durchgangsstation für Zehntausende Migranten aus Afrika. Das begann 2011, als der Sturz des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi einen Weg durch schwache und zerfallende Staaten an Europas Südgrenze eröffnete. 2016 kam die Rekordzahl von 181.000 Menschen an Italiens Mittelmeerküste an. Mehr als die Hälfte von ihnen hatte auf ihrem Weg Agadez passiert. Die Stadt lebt seit mehr als 600 Jahren vom Austausch. Im Mittelalter war sie ein Zentrum der islamischen Lehre und wichtiger Verkehrsknotenpunkt für Karawanen.
Früher wurde hier mit Gold, Salz und Sklaven gehandelt, heute sind es Waffen, Drogen und Migranten. Fast jeder in der Stadt hat mit diesem Geschäft zu tun – entweder direkt oder indirekt durch Dienstleistungen, die im Umfeld entstanden sind. Lebensmittelhändler, Hoteliers, die Polizei: Alle hängen vom illegalen Personen- und Warenverkehr ab. 2013 bis 2016 war die Glanzzeit der Stadt als Schleuserhochburg, jetzt ist die Wirtschaft zusammengebrochen. Das ist nur eine der unbeabsichtigten Folgen der europäischen Bemühungen, den Zuzug ungewollter Migranten und Flüchtlinge zu stoppen.
Die Europäische Union hat mit Niger 2016 ein Partnerschaftsabkommen geschlossen: Die Regierung erhält Fördergelder in Höhe von 633 Millionen US-Dollar und soll im Gegenzug den Strom der Migranten durch das Land stoppen. Die Sicherheitskräfte wurden für das harte Vorgehen gegen die Schmuggler ausgebildet und ausgerüstet. Dieselbe Armee, die vor kurzem noch Schlepper nach Libyen eskortiert hat, steckt sie nun hinter Schloss und Riegel. Verurteilt werden sie nach einem neuen Gesetz gegen den Menschenhandel, das mit Unterstützung Europas erlassen wurde.
Auf allen Seiten von Konflikt und Instabilität umgeben, hat der Niger sich als wichtiger Partner des Westens für den Kampf gegen den Terrorismus positioniert – so unterhalten etwa die USA und Frankreich in dem Land Militärstützpunkte. Die Regierung erhielt Hunderte Millionen US-Dollar Militärhilfe. Die Flüchtlingskrise bietet dem Niger eine ähnliche Chance, die Staatskasse zu füllen. Dazu hat sich das Land bereitwillig die europäische Sichtweise zu eigen gemacht, laut der der Menschenhandel die regionale Stabilität bedroht.
„Es ist sehr beeindruckend, wie engagiert sie für Sicherheit kämpfen“, stellt der Leiter der EU-Delegation im Niger, Raul Mateus Paula, fest. Wesentlich weniger Migranten reisen durch den Niger nach Libyen und Algerien, um von dort aus nach Europa überzusetzen – für Paula beweist das, dass die Partnerschaft funktioniert.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hat von der EU Geld für Transitzentren erhalten, in denen Migranten die Heimreise nahegelegt wird. Im Februar und März 2016 verzeichnete sie noch 116.347 „auf der Ausreise befindliche“ Migranten im Niger. Im selben Zeitraum ein Jahr später war diese Zahl auf ein Viertel gesunken. In Pressemitteilungen lobt die EU die Zahl der festgenommenen Menschenhändler und beschlagnahmten Fahrzeuge.
Wie diese Politik sich tatsächlich auswirkt, ist weniger eindeutig. Seit dem härteren Durchgreifen vermeiden die meisten Schlepper die etablierten Außenposten und Zwischenstationen, darunter auch die, an denen die IOM die Zahl der Migranten erfasst. Es ist also gut möglich, dass die Organisation die Zahl derjenigen, die nach wie vor den Niger passieren, unterschätzt – eventuell sogar erheblich.
Klar ist hingegen, dass das Risiko für Schleuser, aber auch für Migranten gestiegen ist. Garba Hamani etwa hat seinen Preis dafür bezahlt, dass er sich den Behörden widersetzt hat. Hamani, ein Verbindungsmann, wurde im vergangenen Jahr beim Verladen von 49 Migranten auf Lastwagen verhaftet. Die wurden irgendwann entlassen und in die Transitzentren der IOM überführt, Hamani verbrachte neun Monate und 20 Tage hinter Gittern. Das Gefängnis in Agadez sei voller Leute, die mit dem Schleusergeschäft zu tun haben, sagt er. Die Aktivitäten seien nicht beendet, sondern nur in den Untergrund verlagert worden. „Wenn die Regierung die Menschen hier stoppt, nehmen sie einfach einen anderen Weg“, erklärt Hamani.
Die neuen Routen sind nicht nur länger, sondern auch gefährlicher. Einige führen außerhalb der Stadt durch die Berge, bevor entlegene Wüstenabschnitte zu durchqueren sind. Viele kommen in einer verlassenen Gegend etwa 30 Kilometer außerhalb von Dao Timmi zusammen, einer alten Militäreinrichtung im Norden des Landes. Hier fahren die Lastwagen nur noch Schrittgeschwindigkeit und auf einer schmalen Spur, um ein Minenfeld zu passieren, das noch aus der Zeit eines Aufstands der Toubou in den 1990er Jahren stammt. Niemand weiß, wie viele Migranten in der Wüste ihr Leben gelassen haben. Lastwagen verirren sich, bleiben mit einer Panne liegen oder werden von Banditen überfallen. Oft erfährt niemand etwas davon, bis ein anderer Fahrer an den menschlichen Überresten vorbeikommt.
Zudem sind die neuen Routen teurer. Früher kostete es rund 300 US-Dollar, von Agadez zum nächsten Zwischenstopp in Libyen zu gelangen – inzwischen ist der Preis mehr als doppelt so hoch. Mehr Migranten bleiben in den elenden, als „Ghetto“ bezeichneten Quartieren hängen, die die Menschenhändler in der ganzen Stadt an geheimen Orten eingerichtet haben. Immer häufiger spüren die Behörden diese Verstecke auf, um die Schleuser festzunehmen und die Migranten an die IOM zu überstellen. Deshalb werden die Ghettos kleiner und ständig verlegt.
Seit die nigrische Regierung härter durchgreift, hat sich ein Klima der Angst in der Sahara ausgebreitet. Vor die Wahl gestellt, sich selbst oder ihre menschliche Fracht zu retten, entscheiden sich viele Fahrer für die eigene Freiheit. Sie setzen die Migranten mitten in der Wüste aus und brausen davon, um einer Militärpatrouille zu entkommen. Laut Azaoua Mahaman, einem IOM-Mitarbeiter in Agadez, häufen sich diese Fälle. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres habe die IOM fast ein Dutzend Rettungsoperationen koordiniert.
Eine junge Frau aus Nigeria namens Yinka war im April auf der Ladefläche eines Pick-ups auf dem Weg durch die Wüste, als plötzlich Schüsse fielen. Kugeln zerfetzten die Reifen und drangen durch die Seitenteile des Fahrzeugs. Ihre Freundin wurde in den Bauch getroffen, sie verblutete unter den Blicken der nigrischen Soldaten. Der Fahrer entkam und alle Migranten wurden verhaftet. Zuerst aber prügelten die Soldaten auf sie ein und vergewaltigten die überlebenden sechs Frauen. Yinka berichtet, dass sie erneut geschlagen und vergewaltigt wurden, als sie auf der Polizeistation in Madama ankamen, einer der letzten Siedlungen vor der libyschen Grenze.
Alle weiteren Überlebenden dieser Gräueltat waren bereits nach Nigeria abgeschoben, als ich die 21-jährige Yinka im Transitzentrum der IOM in Agadez traf. Deshalb konnte ich ihre Angaben nicht überprüfen. Doch sie decken sich mit den Aussagen anderer Migranten in dem Zentrum und mit Berichten von Menschenrechtsgruppen über Misshandlungen, darunter auch Vergewaltigungen, der nigrischen Streifkräfte. Das Militär sowie das Verteidigungs- und Innenministerium haben auf schriftliche Nachfragen nicht reagiert. EU-Botschafter Paula sagt, ihm seien keine Berichte über Misshandlungen bekannt. „Die Menschenhändler sind die Verbrecher“, stellt er klar.
Die meisten Nigrer würden dem nicht zustimmen. Es stimmt zwar, dass die Schleuser oft auch in andere Formen der Kriminalität wie Waffen- und Drogenhandel verwickelt sind – und derzeit sind viele von ihnen arbeitslos. Aber sie gelten weithin als Anbieter einer wichtigen Dienstleistung. Das harte Durchgreifen hat den Durchzug der Migranten durch den Niger nicht zum Erliegen gebracht, allerdings kommen die Menschen nicht mehr durch Agadez. Die Profite machen nun die risikofreudigsten unter den Menschenhändlern. Denen, die noch im Geschäft sind, hat die EU in die Hände gespielt. Alle anderen schauen in die Röhre.
„Die illegale Migration bewegt mehr Geld als früher“, erklärt der Bürgermeister von Agadez, Rhissa Feltou. Doch die Gewinne gingen an „kleine Mafiagruppen“ statt wie zuvor an einen breiten Querschnitt der Gesellschaft. Die neue Politik, die er gleichwohl für notwendig hält, wirke sich schädlich auf Agadez aus, weil seine Bewohner traditionell vom Schmuggelgeschäft leben. Die EU hat versprochen, Ausbildungsprogramme und Entwicklungsprojekte zu finanzieren, damit sich die früheren Menschenhändler neue Berufsfelder erschließen können.
Autor
Ty McCormick
ist Afrika-Redakteur der US-amerikanischen Zeitschrift „Foreign Policy“. Dort ist sein Beitrag im Original erschienen.Heute lebt er mit Frau und Kindern in einem einzigen Raum im Innenhof seines jüngeren Bruders, der ein Haus in der Altstadt von Agadez hat. Mohamed ist Tuareg von adeliger Abstammung und sein älterer Bruder war einmal ein berühmter Musiker in Agadez. Aber für die Familie sind anscheinend harte Zeiten angebrochen: Ziegen flanieren durch das Wohnzimmer und Tauben gurren in einem Käfig aus Lehm und Stroh.
Mohamed erzählt, er wolle abwarten, was sich im Hinblick auf die versprochenen Ausbildungsprogramme ergibt. Doch er bezweifelt, mit legitimer Arbeit jemals wieder so viel zu verdienen wie mit dem Betrieb des Migranten-Ghettos. Viele der Schmuggler, die er kennt, sind wieder im Geschäft, darunter auch sein dritter Bruder, der im Mai nach einem Lockspitzeleinsatz von den Behörden verhaftet wurde. „Manche werden es versuchen und dabei erwischt werden. Andere werden auf die gefährlichen Routen ausweichen und sterben“, sagt Mohamed. „Wer einmal mit dem Migrationsgeschäft zu tun hatte, kann es nicht mehr lassen.“
Aus dem Englischen von Barbara Kochhan.
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